Scrum – ein paar Beobachtungen

Ich hatte es ja schon länger angekündigt; jetzt endlich auf 1500 m Höhe in den Südtiroler Bergen macht es auch einfach mehr Spaß, meine Eindrücke zu Scrum zusammen zu fassen.

Erst mal die eigentlich selbstverständlichen Feststellungen (auf welche Methode treffen sie nicht zu …)

  • Auch Scrum ist keine Silver Bullet: die IT sucht wider besseres Wissen schon länger erfolglos danach (und glaubt zu meiner Überraschung immer wieder an die Versprechungen).
  • Vorsicht vor religiösen Eiferern: ein Coach ist ein Coach und kein Apostel – man sollte ab und zu beiläufig die Teammitglieder an der Kaffeemaschine fragen, ob nach Ihrer Meinung der Projekterfolg oder die Methode als Ziel im Vordergrund steht. Scrum selber geht ja auch offen damit um, dass lokale Anpassungen explizit gewollt sind.
  • Die Einführung braucht Zeit (mehr als man zuerst denkt): dies sollte man offen zum Management und zum Team kommunizieren, man sollte aber durchaus den Fortschritt tracken.
  • Viele neue Begriffe (deren Inhalte nicht immer so neu wie die Begriffe sind), hier und da bewusst provokativ: manche mag’s begeistern, ich fand’s schon ziemlich übertrieben, aber –  als Consultant darf man sich über so was ja nicht beschweren 🙂

Mein erster Eindruck, als ich mich Scrum näherte, lässt sich am besten als „Oha – die Diktatur der Entwickler“ beschreiben: es wurde schon einiges, was „schon immer gestört hat“, kurzerhand als Teil der Methode bestimmt. Natürlich hilft es jedem Team, unabhängig vom Vorgehensmodell, wenn man in einem Raum zusammensitzt, Wände und zusätzliche Meetingräume ausreichend und spontan zur Verfügung hat – aber ich fürchte, der Vorwurf geht hier mehr gegen das Management als gegen die Methode, wenn diese hilfreiche, produktivitätssteigernde Infrastruktur nicht anders erreicht werden kann?

Die Rolle des Product Owners erschien mir auch zuerst wie ein „bösartiges Zurücktreten“: Wir kennen die Forderungen der Fachbereiche nach einem Ansprechpartner der IT, der zwischen Plattenpreisen und Disaster-Recovery-Konzepten, Umsetzungsidee der Quadratur des Kreises und Feinschätzung für „ein Abrechnungssystem für Alles“ alles spontan im Meeting verlässlich beantworten kann. Die Scrum-Erwartungen an den Product Owner klingen nicht wirklich anders, wenn man über ein wirklich komplexes System spricht: Ergonomie, Branding, Schnittstelle zur Buchhaltung, Datenschutzanforderungen, … – auch außerhalb der IT gibt es Spezialisierungen.

Trotz dieser initialen Vorbehalte hat mir meine Tätigkeit als Product Owner viel Spaß bereitet, und die Praxis führt uns ja viele Dinge noch wesentlich deutlicher vor Augen, als es jede theoretische Überlegung kann:

  • Nein – eine Spezifikation ist nicht eindeutig und vollständig; egal, wie viel Mühe sich die Autoren auch geben
  • Nein – Entwickler können nicht „einfach so“ das Gewollte ahnen; egal, wie hochqualifiziert sie auch sind
  • Nein – die Fragen der Entwickler kann man nicht einfach so mal ein / zwei Wochen liegen lassen

Ein Product Owner erzielt allein schon unter dem Aspekt des „Kümmerers für offene Fragen“ meines Erachtens einen extrem hohen Return-on-Invest!

Bei allen Vorteilen von Scrum zur schnellen Bereitstellung produktiver Software (speziell, wenn sich auch die Anforderungen erst nach und nach aufbauen): zwei Punkte aus der Praxis vieler kommerzieller Projekte bleiben aus meiner Sicht weiterhin offene Fragen:

  • Ich würde gerne einmal ein agiles Umfeld erleben, in dem die Dokumentation nicht plötzlich als „Oh, das müssen wir auch noch machen!“ den Startschuss zur Software-Archäologie darstellt.
  • Aus wahrlich wohlverstandenen Gründen möchten Auftraggeber und –nehmer zu Anfang eines Projektes Eckdaten wie Scope, Zeitplan und Kosten in einem Vertrag festhalten. Der Wasserfall bietet diese trügerische Sicherheit, und führt regelmäßig zu Zeit- und Kosten-Überschreitungen bei anhaltenden Scope-Diskussionen und eine Lawine von Change Requests, die zu einem großen Teil nur Korrekturen der Spezifikation sind. Agilere Ansätze bieten nach meiner Erfahrung dem Management noch keine wirkliche Alternative; ich zweifele allerdings auch, ob es hier den Stein der Weisen geben wird …